Varanasi ist keine normale Stadt. Sie ist nicht nur eine der ältesten dauerhaft bewohnten Städte der Welt, sondern auch eine der heiligsten Stätten des Hinduismus und somit eigentlich schon fast ein Pflichtbesuch auf einer Indienreise. Denn in keiner anderen Stadt liegen Leben und Tod so nah beieinander wie in Varanasi, und nirgends sonst wird Glaube so offen und ehrlich gelebt, dass man selbst als Besucher ein Gefühl dafür bekommt.
Wie verbrachten 3 Tage in Varanasi. Eigentlich können keine Worte dieser Welt diesen speziellen Ort beschreiben. Aber in diesem Artikel versuche ich es und nehme dich mit in eine Stadt, die den Tod genauso sehr feiert, wie das Leben.
Varanasi: Eine völlig andere Welt
Es herrscht eine mystische Stimmung in Varanasi. Es liegt etwas in der Luft, das ich zwar nicht mit Worten beschreiben, aber durchaus spüren kann. Ist das diese Spiritualität, von der immer alle reden?
Langsam bewegen wir uns durch die Gassen der Stadt und beobachten das hektische Treiben. Der Schweiß rinnt mir die Stirn herunter, meine Bluse ist so nass, dass ich mich frage, wie viel Liter Wasser ein Mensch in 30 Minuten verlieren kann. Aber die anderen sind auch nass. Das ist unverkennbar, denn an die klebrigen Körper der Frauen in bunten Saris und Männern in schwitzigen Hemden komme ich ohne Berührung nicht vorbei.

Die quetschen sich laut schreiend durch die enge und stickige Gasse, in der es kaum Platz zum Atmen gibt. Das möchte man bei dem extremen Schweißgeruch ohnehin eher weniger. Doch plötzlich steigt mir etwas anderes in die Nase. Ein bestialischer Gestank breitet sich vor uns aus, als wir um die Ecke biegen. Ist es Urin, Verwesung oder Müll? Ich weiß es nicht.
Ich entdecke vor uns eine Kuh, die von einem Müllberg frisst. Daher also! Varanasis Altstadt wird von dutzenden Kühen und Ziegen bevölkert. Die scheint der Trubel eher weniger zu interessieren, denn sie lassen sich von uns nicht stören. Wir passieren die kleine Gasse und laufen ein Stück weiter. Schnell weicht der Gestank wieder dem süßen Duft von Kardamom und Räucherstäbchen. In kleinen Läden werden Seidentücher, Blumen und Chai verkauft. Es ist keine leichte Aufgabe, in den verwinkelten Gassen nicht die Orientierung zu verlieren.


Baden im dreckigsten Fluss der Welt
Varanasi liegt im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh am heiligen Ganges, der gleichzeitig auch der dreckigste Fluss der Welt ist. Ungefiltertes Abwasser, Industrieabfälle, Pestizide von Düngemitteln, sogar die Asche von Kremationen und die Überreste menschlicher Körper verwandeln die sogenannte „Mutter Ganga“, die aus dem Himalaya durch Indien bis nach Bangladesch fließt, zu einer giftigen und muffigen Kloake.

Hier hat man ein ganz besonderes Verhältnis zu dem Fluss, welches wir als Außenstehende wohl nie verstehen können. Er ist die Lebensader von Milliarden von Menschen. Hier wird Wäsche gewaschen, Zähne geputzt und meditiert. Vor allem aber zieht er täglich tausende Pilger an, die sich im Wasser von ihren Sünden reinwaschen. So sollte jeder Hindu mindestens einmal in seinem Leben nach Varanasi kommen, um dort im Ganges zu baden und sich segnen zu lassen.

Und tatsächlich: Am Ufer finden wir richtige Badestellen, an denen ausgiebig gebadet wird. Einige tauchen mit ihren Köpfen in das verseuchte Wasser oder trinken sogar einen Schluck. Wir sehen, wie sich Menschen literweise Wasser in Kanister abfüllen. Mir fällt die Kinnlade nach unten. Beim Gedanken daran, auch nur den kleinen Zeh in dieses Wasser zu halten, schüttelt es mich. Ich hätte Angst, dass er danach abfault.
Zwischen den Gassen von Varanasi wartet der Tod
Das höchste Ziel eines Hindus ist es jedoch, in Varanasi zu sterben. Wer es zum Lebensende in die Pilgerstadt und seinen Weg über eine Feuerbestattung in den Ganges schafft, so heißt es, durchbricht den Kreislauf der Wiedergeburt und beschreitet damit den direkten Weg ins Paradies. Der spirituelle Glaube ist die Grundlage für all das Geschehen in der Stadt: Shiva, der Gott der Zerstörung und der Erneuerung, segnete die Stadt vor über 5.000 Jahren. Man sagt, er verweile noch heute in Varanasi und treibe sein Unwesen in menschlicher Gestalt in den verwinkelten Gassen der Altstadt.

Und so tummeln sich zwischen all den neugierigen Besuchern und Gläubigen auch alte und sterbenskranke Menschen, die in Varanasi auf ihren Tod und somit auf ihre Erlösung warten.
Die Feuerbestattungen von Varanasi
Mehrmals täglich ertönt das Mantra „Ram Naam Satya Hai“ in den Gassen, wenn die Leichenträger die Verstorbenen eingehüllt in weißen Tüchern auf Bambustragen ihren letzten Weg zum Bestattungsplatz tragen.
Als wir an einem dieser Plätze ankommen, finden gerade Bestattungen statt. Das ist auch kein Wunder, denn das Feuer erlischt nie. Durchgehend werden hier – Tag und Nacht – Menschen verbrannt. Begleitet werden sie von männlichen Angehörigen, die sie zunächst im Ganges waschen und anschließend auf die Feuerstelle legen. Der Ehemann oder der älteste Sohn zünden das Feuer an und übernehmen die Leitung der Bestattung. Man erkennt sie immer am kahl rasierten Kopf und dem weißen Gewandt. Frauen sind hier nicht erlaubt, wird uns erzählt. Denn man glaubt, sie könnten den Anblick nicht ertragen.

Doch tatsächlich wird der Tod eher gefeiert als gefürchtet. Die Angehörigen beobachten das lodernde Feuer und singen Lieder, weinen und lachen. Nirgends kommt Leben und Tod so nah zusammen wie hier. Die Prozedur dauert etwa drei Stunden, dann ist die Leiche verbrannt und die Überreste werden dem Ganges übergeben. Riechen können wir übrigens nichts anderes als normalen Rauch. Zur Eindämmung der Geruchsentwicklung wird dem Hartholz zur Bestattung Zedernholz beigemischt.

Die Sache mit dem Aberglauben
Jeder, der es sich leisten kann, darf hier Erlösung finden. Nach dem Tod hat man 24 Stunden Zeit, um bestattet zu werden. Es gibt allerdings Ausnahmen: Kinder gelten als „rein“ und müssen deshalb nicht verbrannt werden. Auch Schwangere, Priester und Menschen, die eines unnatürlichen Todes gestorben sind (beispielsweise wenn sie von einer giftigen Schlange gebissen wurden), dürfen nicht in Varanasi verbrannt werden. Diese werden stattdessen mit einem Stein beschwert, auf ein Boot geladen und in der Mitte des heiligen Flusses versenkt. Nicht selten kommt es vor, dass sich diese lösen und wieder an die Oberfläche kommen. Uns blieb solch ein Anblick zum Glück verschont.
Die Ghats
Dreh und Angelpunkt für alle spirituellen und religiösen Rituale in Varanasi sind die Ghats an der Uferpromenade des Ganges, und so finden auch wir unseren Weg dorthin. Auf den langen Treppen, die bis ins Wasser reichen, herrscht den ganzen Tag über buntes Treiben. Am Morgen und am Abend ist die Stimmung aber besonders faszinierend.

Die Ghats haben unterschiedliche Funktionen. An manchen finden jeweils morgens und abends Zeremonien zur Ehrung des Ganges statt, an anderen werden die Feuerbestattungen durchgeführt, wie am bekannten Manikarnika Ghat oder dem kleineren Harishchandra Ghat, an dem die Ärmeren verbrannt werden.
Bootsfahrt über den Ganges zum Sonnenuntergang
Die Sonne steht bereits tief. Wir entscheiden uns für eine kleine Bootsfahrt über den Ganges, um das Treiben am Ufer vom Wasser aus zu beobachten. Diese wird jeweils zum Sonnenauf- und Untergang angeboten und starten vor dem Assi Ghat.

Als die Sonne untergegangen ist, setzt sich das kleine Boot in Bewegung und wir schippern flussaufwärts. Die Treppen der Ghats füllen sich. Vor allem am Dashashwamedh Ghat warten Gläubige dicht gedrängt auf den Beginn der Zeremonie. Schon nach kurzer Zeit kein freier Platz mehr zu sehen.


In der Ferne sehen wir das Feuer lodern. An mehreren Stellen schießen tiefrote Flammen meterhoch in die Höhe. Ein ehrfürchtiger und dennoch faszinierender Anblick der berühmten Feuerbestattungen, die am Ganges durchgeführt werden.

All zu lange bleiben wir nicht. Nach etwa 45 Minuten ist die Tour schon wieder vorbei, die Impressionen aber wirken noch lange nach. All die Menschen am Flussufer, die Farben, der Geruch.
Rituelle Zeremonie
Nach der Bootstour nehmen wir vor dem Assi Ghat platz, um an einer der abendlichen Zeremonien teilzunehmen. Die bekanntere und größere Zeremonie findet am Dashashwamedh Ghat statt, allerdings hat uns die Menschenmasse, die wir bereits vom Boot aus gesehen hatten, etwas abgeschreckt. Bei den Zeremonien wird die Mutter Ganga geehrt, es werden Opfergaben gegeben und Gläubige werden mit dem Wasser des Flusses gesegnet.

Die Zeremonie am Assi Ghat ist viel kleiner und persönlicher, aber nicht weniger authentisch und faszinierend. Es werden Mantras gesprochen, Menschen gesegnet, gesungen, Feuerkelche und Räucherstäbchen geschwungen. Dabei stellen die tanzenden Brahmanen (Angehörige der indischen Priesterkaste) die Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde sowie den spirituellen Geist dar.




Ich werde sofort in den Bann gezogen und starre mit leuchtenden Augen auf das Feuer, dass sich rhythmisch vor mir bewegt. Ein wirklich einmaliges Erlebnis, dass man in Varanasi auf jeden Fall gesehen haben sollte. Zeitgleich findet nur wenige Meter entfernt noch eine weitere Zeremonie am Assi Ghat statt, sodass man hier recht einfach einen Platz bekommt. Dort sitzt an diesem Abend sogar eine Kuh im Publikum.

Die heiligen Bettelmönche
Am nächsten Morgen zieht es uns erneut zum Flussufer. Wir laufen Flussaufwärts an den Ghats entlang und beobachten, wie die Stadt langsam aus ihrem Schlaf erwacht. Gläubige meditieren am Ganges, Blumenverkäufer und Chai Wallahs warten auf Kundschaft. Auf einer Liege sitzt ein Sadhu, ein heiliger Bettelmönch, in seinem Safranfarbenden Gewand. Er ist mit Asche beschmiert und trägt einen Dreizack mit sich. Sadhus haben dem Materialismus den Rücken gekehrt und führen seither ein Leben ohne festen Wohnsitz und eigenes Eigentum. Durch ihr Leben in Askese und Meditation möchten auch sie den Kreislauf der Wiedergeburt durchbrechen.


Betteln hat in Indien einen anderen Stellenwert als bei uns. Durch ihren starken Glauben an das Karma fühlen sich Hindus verpflichtet, Almosen zu geben. Und da Sadhus als heilig angesehen werden, werden sie von den Gläubigen in der Stadt versorgt. Naja, und von dem Geld, dass sie verlangen, sollte man ein Foto von ihnen machen wollen. Ganz so ernst scheinen es die meisten Sadhus mit dem Besitz dann doch nicht zu nehmen. So bekommt das ganze schon einen faden Beigeschmack. Aber Varanasi ist tatsächlich ein Paradies für Gauner und Trickbetrüger.

Diwali in Varanasi
An diesem Abend wirkt die Stimmung in der Altstadt und am Wasser nochmal etwas mystischer als sonst. Es ist unerwartet ruhig in der Stadt, kleine Kerzen flackern auf den Treppenstufen vor den Häusern und füllen die Gassen mit Licht. Kleine Sandmalereien zieren den Boden. Die Bewohner haben sich zurückgezogen, um mit ihren Familien zu essen oder um Gebete vor den Tempeln zu sprechen.




Ab 21 Uhr wird es lauter. Feuerwerke und Öllampen erhellen den Himmel über den Ganges, es wird geböllert und gefeiert. Familien laufen zum Flussufer hinunter, legen kleine mit Blumen und Kerzen gefüllte Schiffchen ins Wasser und beten.

Was wir in Varanasi erleben dürfen, ist Diwali, das größte und wichtigste Fest in Indien. Es ist mit unserem Weihnachten und Silvester vergleichbar und erstreckt sich über 5 Tage, wobei jedem Tag eine andere Bedeutung gegeben wird. Während in Nordindien mit Diwali die Rückkehr von König Rama nach Ayodhya gefeiert wird, zelebriert man in Südindien hingegen den Sieg von Lord Krishna über den Dämon Narakasura. Auch andere Religionen im Land feiern Diwali. Eines haben sie jedoch alle gemeinsam: Die Freude über den Sieg des Guten über das Böse, oder des Lichts über die Dunkelheit.

Varanasi: Das Glück liegt irgendwo dazwischen
Wenn alle Menschen in Varanasi eines gemeinsam haben, dann ist es wohl die Suche nach dem Glück. Indien ist das Land der Gegensätze, und an keinem Ort dieser Welt wird das so deutlich wie in Varanasi. Armut trifft auf Reichtum, Bunte Farben auf triste Müllhalden, bestialischer Gestank auf den Duft nach Zimt und Kardamom. In Varanasi wird das Leben gefeiert, aber ebenso der Tod. Das Dunkle und das Licht, das Gute und das Böse. Alles in Varanasi ist miteinander verbunden. Und irgendwo dazwischen liegt das Glück, wenn man ganz genau hinsieht.

Du planst gerade deine Indienreise und möchtest noch mehr über das Land erfahren? Hier findest du alle Artikel zu Indien, die ich geschrieben habe.